Über Märchen

Märchen, so wie wir sie heute kennen – und in der bekanntesten Form die von den Gebrüdern Grimm aufgezeichneten – sind eigentlich keine bzw. nicht ausschließlich Geschichten für Kinder.

Stattdessen sind Märchen Erzählungen aus einer sehr frühen Zeit der Menschheit. Matriarchatsforscherinnen sehen darin Verkündigungen (Mären) aus der vorpatriarchalen Periode der Menschheitsgeschichte, die bis etwa 800 v. Chr. andauerte. Sie spiegeln das schamanische Weltbild der damaligen Zeit wider, welches gekennzeichnet war von tiefer Verbundenheit mit allem was existiert. Unter den darauf folgenden hierarchischen und kriegerischen Herrschaften gingen diese schamanischen Geschichten zum Glück nicht komplett verloren, sondern wurden weitergetragen und erzählt in Erinnerung an die weit zurückliegende friedliche Zeit der Vorfahren. In diesen Erzählungen verarbeiteten die einfachen Menschen auch ihre Hoffnungen auf ein gerechtes, friedliches und naturverbundenes Zusammenleben.

Dies wird deutlich in dem typischen Märchenbeginn es war einmal , denn diese Einleitung verweist zurück in eine vergangene Zeit, als die Welt sich noch im Gleichgewicht befand. Auch das für viele Märchen typische Ende „und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“ drückt den Wunsch der Menschen aus, die damaligen friedlichen Verhältnisse mögen bis in die Gegenwart anhalten. Märchen sind demnach nicht einfach mehr oder weniger nette Phantasiegeschichten, sondern eröffnen einen Blick in die Ursprünge menschlicher Gesellschaften.

Mit zunehmender Christianisierung Europas im 15. bis 17. Jh. und zur Zeit der Hexenverfolgung wurden die Geschichten des Volkes mehr und mehr verboten. Nicht das Wahrnehmen und Feiern der zyklischen Naturabläufe des Werden und Vergehens sollten im Vordergrund stehen, sondern der Glaube an einen abstrakten Gott und Erschaffer.1 In der Epoche der Aufklärung, die der Hexenverbrennung folgte, kam noch die Wissenschaft dazu und deren hystorien. Zeit, die bisher immer zyklisch und universell wahrgenommen wurde, wird mit Einführung der Geschichtswissenschaft fortan linear und evolutionär betrachtet. Das, was vor der Geschichtsschreibung passiert ist, wird nun lediglich als Vorgeschichte, d.h. vor der Geschichte liegend, bezeichnet. Im Vergleich zu gerade einmal ein paar Tausend Jahren Geschichtsschreibung werden damit Zehntausende bis Millionen Jahre Menschheitsentwicklung komplett ausgeblendet.2

Um sich die alten Geschichten weiterhin erzählen zu können, wurden diese deshalb abgeändert und durch die Anfügung der Endung chen oder lein in ihrer Bedeutung verkleinert undzu scheinbar harmlosen kleinen Geschichten umgestaltet“.3

Sehen wir uns in diesem Zusammenhang das Wort Märchen genauer an, so ist es zusammengesetzt aus den Silben mär und chen. Chen ist die bekannte Verkleinerungsform genauso wie lein. Das Wort Mär wird heutzutage für die Bezeichnung einer unwahren oder falschen Geschichte verwendet. In früheren Zeiten waren Märe jedoch göttliche Verkündungen, so etwa noch in Martin Luthers Weihnachtslied „Vom Himmel hoch“ von 1541:

Vom Himmel hoch, da komm ich her.
Ich bring’ euch gute neue Mehr,
Der guten Mehr bring ich so viel,
Davon ich singn und sagen will.“

Das Wort mär/mehr gab es jedoch auch als Adjektiv und bedeutete so viel wie lieb und wert. Zudem steht das Wort unzweifelhaft in Verbindung mit mehren bzw. moderner vermehren und hat damit einen eindeutigen Fruchtbarkeits- und Wachstumsbezug. Verwandte Worte dessen sind wiederum die Göttin Mara, die später zu Maria wurde oder das englische Wort merry (lustig, fröhlich, feiern).4

So unterstützten unsere Ahninnen und Ahnen mit dem Feiern der Jahreskreisfeste und anderen Ritualen die Muttergöttin Erde in ihrem Mehren und zyklischen Sich-Wandeln.

Die ursprünglich geschätzten Märe erfuhren im Laufe der letzten Jahrhunderte somit gleich in zweifacher Form eine Abwertung: erstens durch die Verleumdung als unwahre Geschichte und zweitens durch die Verniedlichung und Herabstufung als harmlose Kindergeschichten.

Kommen wir nun zurück zur ursprünglichen Bedeutung der Mären. Diese enthalten viele Elemente, die Aufschluss über das Weltbild früherer Kulturen geben können. Laut Kurt Derung finden sich in den Märchen „unbezweifelbar uralte[…] Zeugnisse[…] prähistorischer Weltanschauungen5. In ihnen ruhen „Relikte von totemistischen und animistischen Anschauungen […], aber auch schamanische Spuren sowie Elemente einer Ahninnenkultur6. Das, was wir heute als Märchen kennen, sind „nur letzte Ausläufer einer langen Überlieferungstradition, die über die Neuzeit, das Mittelalter und die Antike hinausgehen7. In ihnen findet sich eine Mythologie, die europaweit „ähnliche Motive und Handlungsmuster8 enthält. Diese „naturmythologischen Züge [gehören] zum Wesenskern des Zaubermärchens und damit zu einer sehr alten Überlieferungsschicht9. Es gibt deshalb ähnliche Motive und Handlungen in allen Märchen, sowohl innerhalb als auch außerhalb des europäischen Kulturraumes.

Diese frühen Menschen hatten noch keinen Begriff für ‚die Natur‘. Natur wurde nicht als etwas außen befindliches betrachtet, sondern die Menschen waren selbst so sehr Teil dieser Natur, dass ein Begriff für dieses Alles-was-ist keinen Sinn ergab. Die Erde war für sie wie eine Mutter, die sie nährte und mit allem Lebenswichtigen versorgte und am Ende alle Lebewesen wieder in ihrem Schoß aufnimmt und wiedergebärt.10 Überleben konnte nur, wer Mutter Erde gut kannte und ihr mit Respekt begegnete. Dies ist das, was alle Protagonisten in den Märchen (meist junge Frauen und Männer) lernen: der Natur zu dienen und Fürsorge für alles Leben zu tragen.11

Hauptthema der meisten Mären ist die Initiation junger Mädchen und Knaben in die Geheimnisse des Lebens, wodurch diese zu gereiften, erwachsenen Mitgliedern ihrer Gemeinschaften erhoben werden.

Die Erstauflage der Grimmschen „Kinder- und Hausmärchen“ von 1812 enthielt deshalb noch viele eindeutig erotische Stellen, welche nach Kritik der Leserschaft zusehends heraus getilgt wurden, um kindgerechte und gottgefällige Märchenversionen zu erschaffen.12 Erst die wiederholte Überarbeitung durch Wilhelm Grimm, welche in der Endausgabe von 1858 gipfelte, machte aus diesen Geschichten eines der bekanntesten Kinderbücher.

Die Brüder Grimm haben zudem erfolgreich den Mythos gewebt, wonach sie durch die Lande gezogen seien und mündlich im Volk erzählte Märchen gesammelt und verschriftlicht hätten. Stattdessen stammten viele der veröffentlichten Märchen aus dem wohlhabenden Kasseler Stadtbürgertum hugenottisch-französischer Abstammung.13. Durch die zahlreichen redaktionellen Überarbeitungen, welche vom christlich-konservativen Weltbild der Brüder Grimm und einem moralisch-pädagogischen Anspruch geprägt waren, wurden die Märchen dem Zeitgeschmack des 19. Jh. immer mehr angepasst.

Die über Jahrtausende mündlich weitererzählten Märchen haben nie die alleinige Wahrheit für sich beansprucht. Die Erzählerinnen und Erzähler verwendeten „immer die Sprache und Bilder ihrer Zeit, um die Weisheiten ihren Mitmenschen näher zu bringen. Diese Lebendigkeit wurde unterbrochen, als die Märchen aufgeschrieben wurden. Dank der Niederschriften blieben die Märchen zwar bis heute erhalten, aber sie erstarrten.“14

Die variantenreiche Vielfalt der Erzählungen wurde mit der Veröffentlichung der „Kinder- und Hausmärchen“ auf eine allgemein gültige Form verfestigt, so dass mit zunehmender Beliebtheit der Grimmschen Märchen weitere Versionen der Geschichten immer mehr in Vergessenheit gerieten.

Zur Zeit, als die Märchen von den Gebrüdern Grimm aufgezeichnet wurden, waren die einst existierenden matriarchalen Gesellschaften weit in Vergessenheit geraten, die Ethnologie/Völkerkunde war verfälscht vom abwertenden Blick der kolonialen Eroberer auf die ‚Ureinwohner’ und die moderne Matriarchatsforschung noch nicht entstanden.15 Auffallend in vielen Märchen der Brüder Grimm sind die negativ gezeichneten Frauencharaktere (die böse Königin, die Stiefmutter), womit frauenfeindliche und frauenphobe Einstellungen ihrer Zeit widergespiegelt wurden.

Die verniedlichenden Formen, mit denen die Protagonist*innen in den Märchen der Gebrüder Grimm bedacht werden (Dornröschen, Rotkäppchen, Hänsel …), zeigen einerseits an, dass diese sich am Beginn ihrer Initiationsreise noch im Stadium der Kindheit befinden. Andererseits wird es gerade den jungen Mädchen nicht zugestanden, auch nach erfolgter Initiation diese kindliche Unreife zu verlassen, denn die Verniedlichungen ihres Namens bleiben ihnen erhalten. Die jungen Knaben, deren Initiation ebenfalls geschildert wird, tragen abgesehen von einigen Ausnahmen (z.B. Hänsel) diese Verniedlichungen nicht, sondern werden als König, Prinz oder Jäger bezeichnet.

Ich möchte die Märchen in einer für Kinder passenden Form neu erzählen. Patriarchale und bürgerliche-moralisierende Überformungen werden entfernt, so dass die darunter liegenden alten Geschichten wieder stärker zum Vorschein kommen.

1 Dagmar Margotsdotter-Fricke: Die gute Mär. Mutterkunde in Märchen (2008), S. 12 / 2 vgl. Dagmar Margotsdotter-Fricke: Die gute Mär. Mutterkunde in Märchen (2008), S. 36f. / 3 Dagmar Margotsdotter-Fricke: Die gute Mär. Mutterkunde in Märchen (2008), S. 59 / 4 Dagmar Margotsdotter-Fricke: Die gute Mär. Mutterkunde in Märchen (2008), S. 51-57 / 5 Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 20 / 6 Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 21/ 7 Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 21 / 8 Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 21 / 9 Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 292 /10 Ursula Seghezzi: Im Land der Seele. Märchen (2016), S. 42 / 11 vgl. Ursula Seghezzi: Im Land der Seele. Märchen (2016), S. 43 / 12 Vgl. Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 18 /13 Kurt Derungs (Hg.): Die ursprünglichen Märchen der Brüder Grimm. Die wahren Geschichten neu entdeckt (2010), S. 10 / 14 Ursula Seghezzi: Im Land der Seele. Märchen (2016), S. 15 / 15 Dagmar Margotsdotter-Fricke: Die gute Mär. Mutterkunde in Märchen (2008), S. 177f.

 

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